Helenendorf

Beim Besuch einer alten Karawanserei in Sheki haben wir per Zufall Margarita Breitmeier (rechts im Bild) und ihre faszinierende Lebensgeschichte kennengelernt. Frau Breitmeier wurde 1933 in Helenendorf, dem heutigen Göygöl,  geboren. Als sie 8 Jahre alt war, wurden sämtliche deutschstämmigen Familien auf Geheiss Stalins deportiert und Margarita fand sich in Kasachstan an der Grenze zu Sibirien, tausende von Kilometern von ihrem Geburtsort entfernt, wieder. Dort verbrachte sie zusammen mit andern Deportieren die nächsten 50 Jahre. Erst ab 1956, nach der von Chruschtschow eingeleiteten Entstalinisiertung, konnte sie ihren Geburtsort wieder besuchen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion enschloss sie sich anfangs der Neunziger Jahre, nach Deutschland auszuwandern und lebt heute in Osnabrück.

 

Die Geschichte eines deutschen Dorfes in Aserbaidschan

Hunger, Krieg und Glaube (Pietismus) brachte mehrere Tausend Süddeutsche anfangs des 19. Jahrhunderts dazu, auszuwandern. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben zogen viele in den südlichen Kaukasus, der zum russischen Reich gehörte. Aktiv gefördert wurde diese Auswanderung durch den Zaren Alexander I, der dort mit deutschen Kolonien einen Schutzwall gegen das osmanische Reich bauen und wirtschaftlich aktive und regierungstreue Menschen

in dieser unterentwickelten und schwer kontrollierbaren Gegend ansiedeln wollte. Diesen so genannten "Kolonisten" wurden dann auch sehr attraktive Privilegien gewährt: 10 Jahre Steuerfreiheit, Befreieung von der Wehrpflicht, einen "Start up" Kredit, Zuteilung von Land und eine autonome Verwaltung.

 

Diesem verlockenden Angebot folgten rund 120 Würtemberger Familien und gründeten am Ostermontag 1819 die erste deutsche Kolonie Helendendorf, benannt nach einer Schwester des Zaren.

In den ersten Jahrzehnten litten die Kolonisten unter Überfällen der Tataren und der Perser und Krankeiten wie Malaria und Cholera machten ihnen zu schaffen. Ab 1860 setzte dann aber der wirtschaftliche Aufschwund ein. Dank der neu erbauten Eisenbahn, die bis nach Moskau führt, wurde die Weine aus Helenendorf die Basis für den wirschaftlichen Erfolg der Kolonie. Als erstes Dorf im Kaukasus hatte Helenendorf 1912 elektrischen Strom und ab 1916 das erste Telefonnetz. Und sie bauten Häuser mit Giebeldächern und Veranden, die bis heute halten.

 

Das Zusammenleben mit der angestammten aserbaidschanischen Bevölkerung gestaltete sich - so weit man heute weiss - relativ unproblematisch. Dies änderte sich mit der russischen Revolution 1917. Der relative Wohlstand der fleissigen Schwaben war den Bolschewiki ein Dorn im Auge. Sie wurden enteignet und 1926 wurden die Oberhäupter der wichtigsten Familien der Spionage angeklagt deportiert.

Zwischen 1938 und 1941 wurden sämtliche deutschen Familien, die noch in Helenendorf und andern deutschen Kolonien lebten, auf Befehl Stalins nach Kasachstan und Sibirien umgesiedelt - mit einer Ausnahme: Ein aktives Mitglied der kommunistischen Partei, halb Pole und halb Deutscher, durfte mit seiner Familie bleiben. In die schwäbischen Häuser zogen vor allem Armenier, bis diese ab 1988 im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien, der sich zu einem blutigen Krieg entwickelte, auch weichen mussten.

Das kleine Städtchen heisst heute natürlich nicht mehr Helenendorf, sondern Göygöl.

 

 

Das Jubiläum

Gerne haben wir die Einladung, am 23. April am 200 Jahre-Jubiläum der Gründung von Helenendorf teilzunehmen, angenommen und dafür einen Umweg in Kauf genommen. Wir haben es nicht bereut! Es war eine grossartige Feier mit vielen interessanten Begegnungen und Gesprächen.

 

Die Feier in der Kirche

Die Feierlichkeiten begannen in der ehemaligen evangelischen Kirche mit einem Gottesdienst, geleitet vom deutschstämmigen Bischof von Baku. Ausser den überwiegend aus Deutschland angereisten Gästen, waren rund 20 aserbaidschanische Vertreter anwesend, darunter auch der Bürgermeister.

 

Nach der Messe gab es verschiedene musikalische Darbietungen von Kindern aus der Gemeinde.

 

Das Festmahl

Danach wurden alle Gäste mit einem Bus, eskortiert von Polizeiautos mit Blaulicht, zu einem Restaurant oberhalb von Göygöl gefahren. Beim mehrstündigen Essen wurden eine grosse Auswahl an regionalen Spezialitäten aufgetragen, begleitet natürlich von viel Wein und Schnaps aus dem Weinkeller, der von deutschen Einwanderern vor über 150 Jahren gegründet wurde.

 

Nicht fehlten durften natürlich die zahlreichen Ansprachen von aserbaidschanischen Vertretern und von Gästen mit den obligaten Trinksprüchen auf Frieden, Respekt und Völkerfreundschaft.

Natürlich nutzten wir die Gelegenheit, um von unseren Tischnachbar/-innen mehr über ihre Lebensgeschichte und die ihrer Vorfahren zu erfahren. Dabei ergaben sich viele interessante Gespräche. Hier ein paar Beispiele.

Marianne und Mike Rybkin

Bellazmira hatte am Mittagstisch ausführlich Gelegenheit, sich mit Marianne Rybkin und ihrem Sohn Mike aus der Familie Vohrer, welche zu den Gründerfamilien von Helenendorf gehören, zu unterhalten. Frau Rybkin wurde vor 80 Jahren nach der Deportation in Leningrad, dem heutigen St.Petersburg geboren. Ihre Mutter, die auf dem Titelbild des Buches, das Bellazmira in der Hand hält, zu sehen ist, wanderte 1994 als 88jährige zusammen mit ihrer Tochter Marianne und deren Mann nach Deutschland aus - und zwar nach Reutlingen, woher ihre Familie rd. 175 Jahre zuvor ausgewandert ist. Mariannes Sohn Mike, rechts im Bild oben, war aber russischer Offizier, erhielt keine Ausreiseerlaubnis und lebt heute noch in Russland.

 

 

 

Klaus Vohrer

Auch Klaus Vohrer ist ein direkter Nachfahre einer Gründerfamile von Helenendorf, die es mit Weingütern und Getreidemühlen zu beachtlichem Wohlstand gebracht haben. Sein Grossvater, Julius Vohrer, wurde 1935 verhaftet und gegen einen deutschen Kommunisten ausgetauscht. So konnte/musste seine Familie nach Deutschland ausreisen.

Im Bild stehend Lilli Heinle mit Tochter. Die Familie wurde anfangs der Vierzigerjahre nach Kasachstan deportiert, wo Lilli Heinle aufwuchs und bis in die Neunziger Jahre lebte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wegfall des Eisernen Vorhangs ist sie zusammen mit ihrer damals vierjährigen (?) Tochter nach Süddeutschland ausgewandert.

 

 

 

Besuch des Weinkellers

Nach dem Essen wurde die  Weinkellerei Xan besucht, die 1860 von Christopher Vohrer gegründet wurde..

Am Schluss besuchten wir noch das Haus von Viktor Klein, des letzten Deutschen in Helenendorf, der 2007 ohne Nachkommen gestorben ist. Als aktiver Kommunist gehörte sein Vater und seine Familie zu den wenigen, die nicht deportiert oder erschossen wurden, sondern in Helenendorf bleiben konnten. Das Haus wirkt gespenstisch; seit dem Tod von Viktor Klein wurde vieles ausgeräumt, aber der ganze Rest blieb liegen und ist heute noch unverändert. Das Haus soll, so ist die Absicht, zu einem Museum ausgebaut werden.

Am nächsten Tag wurden wir von einem aserbaidschanischen Musiker (rechts im Bild), welcher den Jugenchor beim Helenendorf-Jubiläum am Piano begleitet hatte, auf der Strasse von Ganja wieder erkannt, freudig begrüsst und sofort zum Tee eingeladen.

Wir danken allen, dass sie uns teilhaben liessen an ihrer Geschichte und uns so ermöglicht haben, einen Einblick in ein historisches Kapitel einer Migration von West nach Ost und zurück zur erhalten.

Un gran abrazo!

 

Links:

Ferne Hoffnung Kaukasus. Deutsche Spuren im Kaukasus, Dokumentarfilm

https://www.youtube.com/watch?v=5Fz1mYGfT-A

 

Schweizerische Parallelen: Auch aus der Schweiz wanderten zur selben Zeit, getrieben durch wirtschaftliche Not, Menschen nach Russland aus. Ein NZZ-Bericht darüber hier:

https://www.nzz.ch/articleCV093-1.169449

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Carmen, de Crossfit (Mittwoch, 15 Mai 2019 17:46)


    Cuántas vivencias y buenos momentos os lleváis en la vida. Disfruto viendo las fotos y leyendo las cosas tan interesantes que contáis. Un besito para los dos.

  • #2

    Isabelle D. (Dienstag, 01 Oktober 2019)

    unglaublich interessant! Alle meine Traumziele habt ihr besucht und erforscht. Schreibt noch mehr über eure Erlebnise, wenn ihr mögt!
    Willi: genial das Dokument aus Karabach, einmalig!
    herzlich
    isa.