Dharavi: Ein Slum, der kein Elendsviertel ist

Slums sind chaotische Viertel mit Wellblechbehausungen, ohne Strom, Wasser und Toiletten, in denen die Kriminalität grassiert, Hunger herrscht  und in denen die Menschen freudlos im stinkenden Abfall vor sich hin vegetieren - ohne Perspektive auf ein besseres Leben?

Stimmt das? Nein, in den meisten Fällen nicht.  Das sind Vorurteile, die auf Nichtwissen, Verachtung und/oder Mitleid - was nicht besser ist - basieren. Ein gutes Gegenbeispiel ist Dharavi, eines der grössten Slums der Welt, mitten in Mumbai.

Reaity Tours and Travel, eine NGO, die seit vielen Jahren an Ort engagiert ist, bietet Touren in Kleingruppen von max. 8 Personen durch das Viertel an. Die meisten Guides sind aus Dharavi, wo auch 80% des Gewinns reinvestiert werde.

Wir haben eine Tour gebucht und wanderten zusammen mit 5 andern TeilnehmerInnen und zwei Guides einen halben Tag staunend durch Dharavi. Die jungen Guides erklärten Hintergründe, Zusammenhänge, Geschichte und aktuelle Probleme des Slums.

Fotografieren war verboten und alle TeilnehmerInnen haben sich selbstverständlich daran gehalten. Daher stammen die folgenden Fotos nicht von uns.
Es ist auch möglich, Dharavi alleine ohne Guide zu besuchen. Das wäre weder gefährlich noch würde man auf Ablehnung der Bevölkerung stossen. Aber es würden uns wichtige Informationen fehlen und einige interessante Orte würde man nicht finden.

1 Million Menschen auf 2.4 km2

In Dharavi leben (und arbeiten zum Teil) zwischen 700'000 und 1 Million Menschen - auf 2.4 km2, ca. die Grösse von Aussersihl in Zürich (para l@s canari@s: 20% del distrito Isleta-Puerto-Guanarteme)  Das sind pro Quadratkilometer zwischen 292'000 und 417'000 Menschen! Ist das überhaupt möglich, ganz ohne Hochhäuser?

Ja, in Dharavi geht das. Und es herrscht kein Chaos, kaum Kriminalität und es gibt keine stinkenden Abfallberge. Naja, es riecht nicht überall gut.

 

Wenn in Zürich so viele Menschen pro km2 leben würden, hätte die Stadt zwischen 25 und 36 Millionen EinwohnerInnen. Die Stimmung, die dort herrschen würde, will ich mir lieber nicht ausmalen.

 

Und ja, es ist eng in Dharavi, sehr eng. Überall sind Menschen, Hunde, Katzen. Man weicht Arbeitern mit schweren Lasten aus und schlängelt sich zwischen spielenden Kindern durch. Teilweise sind die dunklen Gassen in den Wohnquartieren nur ca. 60cm breit, so dass kreuzen kaum möglich ist und man in einen Hauseingang oder eine Seitengasse ausweichen muss. Wer den Film "Slumdog Millionaire" gesehen, hat, in dem einige Szenen in Dharavi gedreht wurden, kann sich eine Vorstellung davon machen.  Und trotz der Enge: Es gibt hier auch Platz für einen Sportplatz (für Kricket, was denn sonst in Indien) und für kleine Plätze, wo sich die BewohnerInnen für einen Schwatz oder für gemeinsames Arbeiten unter freiem Himmel treffen.

Arbeiten und Wohnen

Dharavi besteht aus einem Wohn- und einem Arbeitsbezirk, wobei letzter in zwei Bereiche unterteilt ist, einen toxischen und einen nicht-toxischen. Bei einigen Arbeitsprozessen, z.B. in der Gerberei, dem Recycling oder in der Stofffärberei,wird mit toxischen Materialien gearbeitet oder es können giftige Gase entstehen. Daher sind diese Werkstätten nicht in den Wohnbereichen untergebracht.

 

In Dharavi gibt es ein muslimisches und ein hinduistisches Wohnquartier. Neuankömmlinge - und von diesen gibt es einige, denn die Landflucht ist nach wie vor ungebremst - haben Chancen, bei ihrer Religionsgemeinschaft erste Aufnahme zu finden, d.h. eine Ecke zum Schlafen. Den Hindus hilft zudem noch das Kastenwesen, das auch die Funktion einer Grossfamilie erfüllt, welche nach ihren Möglichkeiten auch Unterstützung bietet. Kasten können neben den vielen Einschränkungen für den einzelnen auch positive Aspekte haben.

 

Längst nicht alle BewohnerInnen arbeiten auch hier. Dharavi bietet auch günstigen Wohnraum für Chauffeure, Kindermädchen, Köche, Liftboys,  Hausangestellte und Mofa-Kuriere. Aber es ist nicht einfach, hier eine Bleibe zu finden, denn fast jeder Quadratmeter ist schon belegt.


Bild: Deborah Grey/Al Jazeera

Eindrücklich ist die Arbeitswelt von Dharavi. Es gibt zwischen 10'000 und 20'000 Klein- und vor allem Kleinstbetriebe. Klein ist nicht nur die Zahl der Angestellten, klein, sehr klein sind auch die Platzverhältnisse. Auf wenigen Quadratmetern wird gearbeitet und geschlafen. Viele Slumbewohner sind "Saisonniers", die neun Monate hier leben und arbeiten, vielfach 7 x 12 Stunden wöchentlich. Wenn der Monsun einbricht (Juni - September), ziehen sie zu ihren Familien aufs Land. Zum Leben brauchen sie in Mumbai sehr wenig Geld, so dass sie fast den ganzen kärglichen Lohn nach Hause schicken können.

Recycling

Was kann denn aber in einem Slum produziert? Recycling ist der wichtigste Wirtschaftszweig, der am meisten Menschen beschäftigt und auch am meisten Platz beansprucht. Wiederverwertet werden u.a. Kunststoff, Karton und Metall.

Jeden Morgen schwärmen Hunderte von SammlerInnen aus, fahren mit der Bahn in die verschiedenen Stadtteile Mumbais und bringen das gesammelte Gut nach Dharavi. Mit vielen Geschäften, z.B. Restaurants haben sie ein Abkommen und holen den Plastik ab. 

Das Material wird dann gewaschen und nach Farbe und Kunststoffart sortiert. Danach wird der Teil, der sich dazu eignet, geschreddert.. Am besten und profitabelsten dazu eignet sich PET. In Dharavi wurden schon vor Jahren Maschinen zum Schreddern von Plastik  entwickelt, gebaut und in Betrieb genommen (s. Foto)  Damit lässt sich das nach Farben sortierte Material zu Pellets verarbeiten und wird weltweit exportiert.

Auch die Maschinen werden in Dharavi gebaut und dann verkauft, zum grössten Teil ins Ausland.

Bild: governancenow.com

Auch Karton wird im grossen Stil gesammelt. In vielen Einkaufszentren wird z.B. regelmässig das Verpackungsmateriel abgeholt, was auch den Geschäften nützt, die sich so nicht um die Entsorgung kümmern müssen - und die Verkäufer in Dharavi können für nahezu neuen Karton gute Preise erzielen.

Bild: Jonas Bendiksen

Erstaunlich auch die Dimensionen: Die Recycling-Industrie in Dharavi beschäftigt rund 250'000 Menschen, wobei auch die SammlerInnen, die zum Teil nicht in Dharavi wohnen, gehören.

 

 

Ohne Dharavi würde Mumbai wohl gänzlich im Müll ersticken (s. Foto links), denn die staatliche Müllabfuhr ist - gelinde gesagt - nicht stark präsent. Bilder wie diese sieht man oft in den Strassen von Mumbai.

Bild: Hindustan Times

Die Wirtschaft in Dharavi ist aber nicht nur auf das Recycling reduziert. Topfereien,  Schneidereien, Gerbereien und Lederverarbeitungswerkstätten, Schreinereien,  GoldschmiedeBäckereien u.a.bringen ihre Produkte in den Wirtschaftskreislauf Mumbais, wovon einiges in andere Länder exportiert wird, vor allem Taschen und Kleider.

 

 

Vor allem in London seien die Taschen aus Dharavi mit ihrem geschützen Logo Kult. Auch Bellazmira konnte nicht widerstehen...

Der Jahresumsatz Dharavis wird auf 1 Milliarde USD geschätzt.

 

Sozialwesen

Viele Eltern legen grossen Wert auf die Ausbildung ihrer Kinder, da sie ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen wollen und sie wissen, das eine gute Ausbildung die Grundlage dazu bildet. Gemäss Angaben von Reality Tours and Travel schaffen 12% der Jugendlichen schaffen sogar einen Mittelschulabschluss,
SchülerInnen, die eine höhere Ausbildung ausserhalt des Slums anstreben, stossen aber auf viele Vorurteile. Einige geben deshalb falsche Wohnadressen in einem benachbaren Quartier an.

Neben mehreren staatlichen und privaten Schulen gibt es auch Poliklinikliniken und Zahnarztpraxen.

 

Probleme

Neben vielem, was in Dharavi erreicht wurde, kämpfen die BewohnerInnen aber auch mit ernsthaften Problemen.

  • Die Wasserversorgung (Frischwasser und Abwasser) ist nach wie vor mangelhaft und es gib viele Lecks im Verteilsystem. Auch die Wasserqualität ist ungenügend. 
  • Auch die Luftverschmutzung, die in Mumbai schon generell hoch ist - meistens einiges höher als in Bejing - ist in Dharavi noch höher durch die Verschmutzung, die von den Werkstätten ausgeht. Die Belastung durch Schwermetalle ist ebenfalls hoch.
  • Es wurde zwar vor Jahren ein Projekt beendet, bei dem an verschiedenen Orten öffentliche Toiletten errichtet wurden. Diese werden von den Bewohnern selbst bewirtschaftet und jeder Benutzer, jede Benutzerin bezahlt für den Unterhalt einen kleinen Obolus. Trotzdem ist die Situation nach wie vor unbefriedigend. Es gibt immer noch Orte, wo sich 200 Menschen eine Toilette teilen müssen.

Die ÄrztInnen behandeln deshalb häufig Typhus, Malaria, Diphterie und andere Atemwegerkrankungen. Auch Cholera und Lepra sind hier nicht unbekannt. Durch das enge Zusammenleben breiten sich viele Krankheiten schnell epidemisch aus.

 

Auch die Arbeitsbedingungen geben keinen Anlass zu Sozialromantik. Viele ArbeiterInnen sind toxischen Dämpfen, höllischem Lärm, giftigen Abgasen und mörderischer Hitze ausgesetzt. Arbeitsgesetze - falls es solche überhaupt gibt - und Arbeitsschutzmassnahmen gelten hier nicht. Gewerkschaften? Nicht in Dharavi. 

 

Auch die Wohnsituation ist für die meisten eine Notlösung - aber doch eine Lösung. Für die meisten BewohnerInnen ist es eine Heimat, z.T. seit mehreren Generationen.  Bessere  Alternativen dazu gibt es für die meisten BewohnerInnen nicht.

 

Was ist die grösste Sorge der BewohnerInnen?

Diese liegt nicht in der unzulänglichen Gegenwart, sondern in der Zukunft.

Dharavi lag bei der Gründung im 19. Jh. am Standrand, heute liegt es im Zentrum von Mumbai. Über zwei km2, die lukrativ mit modernsten Wolkenkratzer überbaut werden könnten? Da sehen viel  InvestorInnen die ganz grosse Kasse klingeln. Und umso grösser monetäre Interessen sind, desto grösser der Druck, desto mächtiger die pressure groups.

Es gab schon mehrere Anläufe in Form von milliardenschweren Projekten zur "Reurbanisierung", wie das in diesem Fall genannt wird, wie wenn Dharavi nicht auch ein Teil der Urbanität Mubmais wäre. Alle Projekte sind bisher mehr oder weniger im Sand verlaufen, das letzte, abgeschlossen vor ca. 10 Jahren. Das Ziel war damals, am Rande von Dharavi Hochhäuser zu bauen und den BewohnerInnen die nachweisen konnten, dass sie schon länger im Slum wohnen eine Wohnung anzubieten. Der Projektvorschlag war eine Wohnung von 15km2 pro Familie, aber die Vertreter der BewohnerInnen, die im Projekt miteinbezogen wurden, konnten eine Wohnungsgrösse von 25km2 durchsetzen,

 

Gebaut wurde aber (meines Wissens) nur ein Block von etwa 20 Stockwerken. Das Projekt hatte nicht den erhofften Erfolg. Ein Teil der neuen BesitzerInnen bezogen ihre Wohnung, aber andere vermieteten oder verkauften die Wohnung weiter und blieben in Dharavi wohnen. Dies teilweise natürlich wegen dem grossen Geldsegen, andererseits aber auch, weil Dharavi ihre Heimat ist, wo sie ihr soziales Umfeld haben, vielleicht auch ihren Arbeitsplatz und wo sie allenfalls geboren wurden. Das Projekt wurde abgebrochen.

Aber nun ist wieder ein neues, millionenschweres Projekt aufgegleist, dem aber auch nicht grosse Chancen eingeräumt werden. Erstens ist mit grossem Widerstand der Slumbevölkerung zu rechnen. Zudem lassen sich viele offene Fragen kaum lösen: Was passiert mit den Menschen, denen keine Wohnung angeboten wird?

Was mit den bis zu 20'000 Arbeitsplätzen? Wo sollen die vielen Menschen, die ausserhalb von Dharavi arbeiten, wohnen? Wer besorgt das Recycling, wenn Dharavi diese Aufgabe nicht mehr erfüllen kann? Die Stadtverwaltung? Der traut das niemand zu. Also ist auch mit Widerstand aus der übrigen Bevölkerung zu rechnen.

 

 

Kurzes Fazit

Der Besuch Dharavis hat uns gezeigt, dass SlumbewohnerInnen nicht bemitleidenswerte Kreaturen sind, sondern Menschen, die  Möglichkeiten suchen und finden, unter widrigen Umständen und mit harter Arbeit ihr Leben aktiv zu gestalten. Menschen, die unseren grössten Respekt verdienen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Hoffmann Barbara (Donnerstag, 08 Februar 2024 11:44)

    Toller Bericht.
    Aber: was ist mit der "Gefühlswelt" der Bewohner? Kognitiv tolle Entwicklung, wenn die Unzufriedenen nicht überhand nehmen.
    Simpel: ich genieße es auf meinem sauberen Klo ganz gemütlich mein "Geschäft" zu verrichten. Es gäbe wahrscheinlich noch unendlich viele Aspekte Unruhe rein zu bringen.
    Wie machen das die Inder?